Globalisierungstrends und das Entstehen neuer akademischer Fächer legen es nahe, den Status der Restaurierungswissenschaft zu überdenken. Kulturelle Artefakte sind Paradigmen in wechselnder Gewandung, Wissenschaft will Wahrheit ergründen und beweisen. Die heutige Restaurierung orientierte sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert immer mehr an den Wissenschaften. Daher ist sie auch in deren aktuelle Probleme wie z.B. komplizierende Komplexität, zunehmende Datenflut, uneinheitliches Copyright etc. involviert. Gleichzeitig spiegeln die Aufgaben der Restaurierung divergierende Interessen von Natur- und Geisteswissenschaften. Die Kunstwerken zugrunde liegende Kreativität ist ein grundlegendes menschliches Bedürfnis. Obwohl die Restaurierung heute eine interdisziplinäre Wissenschaft ist, ist ihre Basis eine diesem Bedürfnis entsprechende Praxis. Aufgrund seiner Anwendungsbezogenheit trägt das Fach wesentlich mehr Verantwortung als die ihm zuarbeitenden Wissenschaften.
Rasante Entwicklung der Wissenschaften
Die Wissenschaften und ihre Vermittlung in Forschung und Lehre befinden sich zurzeit in rasanten Entwicklungsprozessen, die durch globalisierende Tendenzen und zahlenbestimmtes Denken gefördert werden. Neue Unterrichtsfächer sprießen wie die Pilze aus dem Boden, bekannte werden modifiziert, diversifiziert, neu unterteilt und dann wieder weggespart. Ganz folgerichtig kann man auch im Fach Restaurierung Trendwechsel beobachten.
Der Fokus des Interesses verschiebt sich von der zeitgenössischen Kunst in Richtung ethnographisches Kulturgut. Dabei äußert sich ein schon lange bestehender Wertekonflikt in divergierenden Auffassungen der Funktion von Kulturgut: Wahrheitssuche im authentischen Material versus humaner Ritus. Auch die Geisteswissenschaften verhalten sich historisch-funktional und formal-analytisch, sind sich heute aber ihrer historischen Befangenheit mehr bewusst als die Naturwissenschaften. Es ist offensichtlich, dass die Trendverschiebung der Restaurierung mit aktuellen sozioökonomischen Konstellationen wie auch mit jüngsten Umweltentwicklungen verbunden ist, die uns drastisch auf Lücken im humanitären Verhalten hinweisen. Es scheint daher angemessen, die Anliegen des Restauratorenberufs zu überdenken.
Vergleich mit anderen Disziplinen
Durch den Vergleich mit anderen Disziplinen kann man gut über die Grenzen der eigenen Fachbefangenheit gelangen. In diesem Sinn sind die folgenden Überlegungen zu verstehen: Die Deutsche Gesellschaft für Hygiene und Mikrobiologie definiert ihr Fach als „Lehre von der Verhütung der Krankheiten und der Erhaltung, Förderung und Festigung der Gesundheit“. Es sei erlaubt diese Definition wegen ihrer Analogie zur Kunst zu modifizieren. Man könnte Kunst nämlich als „Lehre von der Verhütung der Krankheiten und der Erhaltung, Förderung und Festigung der Gesundheit der Kultur“ bezeichnen.[1] Obwohl diese Beschreibung nur eine Facette künstlerischen Wirkens ausmacht, die zudem selten von Gelingen ausgezeichnet ist, ist dieser Aspekt doch besonders eng mit der Restaurierung verbunden. Kunst bietet immer eine Demonstration der sozial-hygienischen Zustände ihrer Zeit. Sie übt auch oft Kritik an aktuellen politischen und sozialen Gegebenheiten. Besonders wichtig für die Restaurierung ist die vermittels Kunst demonstrierte Relativität von Bewertungen. Ein einprägsames Beispiel bietet die Haltung des Künstlers Ai Weiwei angesichts seines durch einen Sturm zerstörten Werks „Template“ bei der Dokumenta 12, 2007. Er beließ die Installation, wie sie zusammengefallen war. Was man eine „aufklärende Wirkung des Zufalls“ nennen könnte, hat den Künstler dazu bewogen, die Eigenkreation neu zu werten, indem er ihre Korrektur durch die Natur akzeptierte.
Auch die Restaurierung ist zu jeder Zeit gezwungen zu bewerten. Dabei nehmen Sozialstrukturen Einfluss auf die Forschung und die an sie gekoppelte Technik und vice versa.
Beim Künstler äußert sich seine Abhängigkeit von der Technik in seiner Medien- und Materialwahl. Doch gibt es bedeutende Unterschiede zur funktionellen Anwendung in den Wissenschaften und im Ingenieurwesen, denn Künstler sind weniger auf das Neueste fixiert, Bekanntes oder Aktuelles wird je nach individueller Absicht gewählt bzw. vermischt.
Künstlerisches Verhalten kann man sehr gut mit dem vergleichen, was neuere neurobiologische Forschung über das Funktionieren des menschlichen Gehirns erkannt hat: Der Molekulargenetiker Francois Jacob konnte 1977 feststellen, dass wir es bei Gehirnarbeit „nicht mit Ingenieurarbeit, sondern mit Bastelei oder mit Flickwerk zu tun haben, bricolage sagen wir in Frankreich“[…]. Während der Ingenieur mit Rohstoffen und Werkzeug arbeitet, die genau zu seinem Projekt passen, arbeitet der Bastler mit allem möglichen Krimskrams […] Er nimmt, was er vorfindet.“.[2] Wichtig ist weiterhin die Erkenntnis, dass das Gehirn die unendlich vielen Sinneseindrücke, die auf es einwirken, nicht alle synchron verarbeiten kann. Es arbeitet zwar ganzheitlich, dabei selektiert und bearbeitet es das Wahrgenommene aber entprechend seiner jeweiligen genetischen und umweltbedingten Verfassung. Diese Selektion ist sinnvoll, denn zu viel Information überfordert das Gehirn. Das bestätigt eine neue Krankheit des Computerzeitalters, das „Information Fatigue Syndrom IFS“[3] (Informations-Müdigkeits-Syndrom).[4] Ein Übermaß an Information macht demnach nicht nur depressiv, sondern auch unfähig, Verantwortung zu tragen. Durch die präventive Selektion des Gehirns kann es nach Erkenntnis des Psychologen und Neurowissenschaftlers Richard Gregory[5] aber zu Fehldeutungen der Wahrnehmungen kommen, denn: „Unser Gehirn erschafft vieles, was wir sehen, indem es das, was da sein ’sollte‘ (dem real Vorhandenen) hinzufügt. Wir erkennen aber, dass das Gehirn (nicht weiß, sondern nur) vermutet, nur dann, wenn es offensichtlich falsch rät, um eine klare Fiktion hervorzubringen.“ Es ist unvermeidbar, dass dieses Verhalten des menschlichen Gehirns ganz allgemein zu Kommunikations-Schwierigkeiten führen muss. Das betrifft im Falle von Kunst und Kultur sowohl den Wahrheitsgehalt des Werks selbst als auch die Objektivität seiner Deutung.
Dabei ist für Restauratoren eine Tatsache sehr interessant, nämlich, dass im Kunstbereich Fälschungen, wenn keine naturwissenschaftlichen Prüfungen unternommen werden, meist nicht durch Zeitgenossen erkannt werden. Analog dazu kann man qualitätvolle zeitgenössische Ergänzungen meist viel schlechter als nicht original erkennen als ältere. In den Wissenschaften hängt die oft kritiklose Begeisterung für zeiteigene Neuerungen sicher mit einer Euphorie zusammen, der der Mensch zu verfallen geneigt ist, wenn es sich um Entdeckungen von Materialien, Techniken und Geräten handelt, die vielversprechend erscheinen[6], das natürlich auch merkantil.
So ergibt sich für den Restauratorenberuf die entscheidende Frage: Wie können angesichts naturgegebener Wahrnehmungsunterschiede jedes Individuums, angesichts der weit verbreiteten Kritiklosigkeit gegenüber technischen Erzeugnissen der eigenen Zeit und angesichts der Divergenzen verschiedener Kulturen Artefakte fälschungsfrei unterstützt werden? Schließlich sind Restauratoren nicht-verbal verantwortlich und unterscheiden sich dadurch eklatant von den sie unterstützenden Wissenschaften; sie behandeln den ihnen anvertrauten Gegenstand nicht nur theoretisch, sondern müssen auch praktisch handeln. Zudem soll die praktische Tätigkeit sozial vermittelnd wirken, das heißt zwischen dem Artefakt und dem kulturinteressierten Laien Verständnis erzeugen.
Diese soziale Funktion weist Parallelen zum Fach Mediation auf, das seit Kurzem an Hochschulen gelehrt wird. Auch ICOM bildet neuerdings Mediatoren aus.[7] Holger Stoltenberg-Lerche, ein junger Kollege aus den Politikwissenschaften, hat die Autorin auf einige, allerdings negative Parallelen zur Restaurierung hingewiesen. Nämlich:
1. Die fehlende Praxisbezogenheit des Studiums der Sozialwissenschaften, zu dem die Mediation gehört, aufgrund von Zeitknappheit. Das hat die Konsequenz der mangelnden Prüfung von Theorien durch die Praxis. Grund ist unter anderem, dass die lange Zeit, die jede Computerarbeit wie Strukturieren und visuelles Aufputzen verschlingt, der Zeit für intellektuelle und praktische Arbeit verlustig geht. Der Nachteil ist, dass die Studierenden sich meist nicht mehr zu einer Schlussfolgerung aus einem theoretisch erarbeiteten Konzept, zu einer persönlichen Meinung also, verpflichtet sehen. Das erschwert es, eine ethische Haltung zu entwickeln, die aber für praktisches Handeln eine Voraussetzung sein sollte.
2. Die generelle Unterbezahlung akademisch Ausgebildeter in den Kultur- und Geisteswissenschaften, die mit der Langfristigkeit der Aufgaben begründet wird.[8] So sind nach Erfahrung Stoltenberg-Lerches im Bereich der Friedens- und Entwicklungszusammenarbeit unbezahlte Überstunden die tägliche Regel. Für das Fach Mediation gibt es wie in der Restaurierung noch keine tarifliche Einbettung. Es werden immer häufiger nicht bezahlte Praktikanten eingestellt, die die Arbeit von Vollzeitfachkräften erledigen sollen. Trotz schlechter Bezahlung und Kurzzeitverträgen werden hohe Anforderungen, was Sprachkenntnisse und Berufserfahrung betrifft, gestellt.
3. Traditionelle Großprojekte finden, wie in der Restaurierung, Mittel für die Finanzierung, während innovativere und kreativere Kleinprojekte ausschließlich auf das Engagement ihrer ‚Erfinder‘ angewiesen sind. Es ist offensichtlich, dass dergestalt profitneutrale Berufssparten wie zivile Friedensfachkräfte und Beschäftigte im nicht marktorientierten Kulturbereich ausgedünnt werden. Jürgen Habermas sagte einmal, dass die Ökonomie in Analogie zur Kolonialisierung alles außerhalb ihrer selbst verschlingt.[9] Trotzdem stehen die Bewerber um Studienplätze und Werkverträge hier (Restaurierung) wie dort (Mediation) Schlange!
Der Unterschied zwischen Restaurator und Mediator ist, dass der Mediator zwischen Parteien zwar vermittelt, aber nicht eingreift. Restauratoren müssen aber handgreiflich werden. In der Position des einzigen Praktikers im fachlichen Umfeld steht der Restaurator daher mit seiner Verantwortung gegenüber dem Werk allein. Diese Verantwortung ist es also, die den Beruf am stärksten prägt und in der Behandlung von Artefakten uns fremder Kulturen besonders deutlich wird.
Bei zeitgenössischer Kunst wird oft die Meinung des Künstlers angefragt, nicht nur, um das Werk besser zu verstehen, sondern auch um keine Fehler oder Urheberrechtverletzungen zu begehen. Das Copyright ist noch nicht den aktuellen, durch neue Medien geänderten Konstellationen angepasst. Der Kunst- und Kulturgutmarkt agiert zwar global, doch gibt es keinen Konsens über das Urheberrecht. In den USA wird es z.B. so eng gehandhabt, dass einem Autor, wenn ein Verlag oder Herausgeber Träger des Copyrights ist, verboten werden kann, in einem neuen Text frühere eigene Formulierungen zu wiederholen.[10] Diese Strenge hat sicherlich mit dem Publikationsdruck zu tun, dem Wissenschaftler heute ausgesetzt sind.
Bildende Künstler verhalten sich, was das Urheberrecht betrifft, zwar nicht einheitlich tolerant, auffallend ist aber ganz allgemein, dass sie eine eindeutige Interpretation ihres Werks in der Regel ablehnen. Es gibt Museen, die beim Ankauf mit dem Künstler vertraglich einen Zustand seines Werks festlegen, den der Restaurator bewahren darf und soll.[11] Die zeitgenössische interaktive Kunst will aber oft nicht mehr auf ein Endprodukt beschränkt werden. Das kommt wahrscheinlich aus dem Erkennen, dass die Wirkung von Artefakten in ihrer gedanklichen Fortsetzung im Auge des Betrachters besteht. Man könnte von einem Weiterlebenwollen sprechen, dem ein komplettes Konsumieren via Verstehen eine beengende Endgültigkeit gibt. Von Ergänzungsfragen kennen wir dieses Phänomen sehr gut und wissen, dass es dabei keine verbindlichen Doktrinen und Lösungen geben kann. Ganz allgemein kann man jedoch sagen: Zu viel Ergänzung ist tödlich für die ästhetische Rezeption jedes Originals. Eine vollständig ergänzende Interpretation wird allerdings von autoritären wie auch von an Ökonomie orientierten Gesellschaften wegen des Einflusspotentials des Ideal-Perfekten bevorzugt.
Ergänzungsfragen sind typisch für die Kluft zwischen Theorie und Praxis. Sie haben eine lange Geschichte. Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde von Goethe und Johann Heinrich Meyer in der Zeitschrift „Propyläen“ die Phantasieergänzung des Betrachters gegenüber der Totalergänzung favorisiert.[12] Unter dem Gesichtspunkt des Weiterlebens sind starre Systeme für heutiges, an einer schnelllebigen Gesellschaft orientiertes, prozessuales Denken fragwürdig, daher die Sehnsucht nach Reversibilität. Für die Restaurierungshandlung gibt es jedoch keine Lösch-Taste.
Die Notwendigkeit einheitlicher Terminologie in einer durch Medien global vernetzbaren Gesellschaft bringt weitere Schwierigkeiten. Im deutschsprachigen Raum haben sich die Bezeichnungen Prävention, Konservierung und Restaurierung durchgesetzt. Prävention und Konservierung richten sich in der Regel nach der neuesten Technik bzw. den Naturwissenschaften. Restaurierung mit dem Problemkind Ergänzung orientiert sich traditionell an den Geisteswissenschaften. De facto ist eine strikte Trennung der Sparten aber nicht möglich. Jeder Eingriff oder Nicht-Eingriff hat relevante Auswirkungen, so wie jedes medizinische Handeln oder Nicht-Handeln auch gesundheitliche Auswirkungen haben muss. Aber auch die Spaltung von Natur- und Geisteswissenschaften steht heute immer öfter auf dem Prüfstand. Konsequenterweise entstehen sogenannte interdisziplinäre Wissenschaften, die versuchen Brücken zwischen den Fächern zu schlagen.
Brücken schlagen zwischen den Fächern. Ein Pradigmenwechsel?
Diese Tendenz könnte einen Paradigmenwechsel zu einer ganzheitlichen Wissensauffassung markieren, der auch in den Restaurierungswissenschaften spürbar ist.[13] Dass derartige Prozesse nicht konfliktfrei verlaufen, mag ein Restaurierungsprobleme enthaltenes Beispiel belegen: Das interdisziplinäre Fach Neuroästhetik wurde vom britischen Forscher Semir Zeki 2001 eingeführt.[14] Zeki sagt: „Das Gehirn verlangt nach Wissen. Es ist ständig auf der Suche nach Organisationskonzepten. Die Kunst erfüllt diese Forderung ganz direkt durch neue Sichtweisen, die die etablierten Nervenbahnen des Gehirns ausschöpfen.“ Daher glaubt Zeki nicht wie der Vater der Psychoanalyse, Sigmund Freud, dass Bildende Kunst therapeutisch auf den Künstler wirkt,[15] er behauptet: „Kunst ist kein Luxus für das Gehirn, sie ist eine Notwendigkeit.“ Dieser Meinung kann vorbehaltlos zugestimmt werden, ihre begründende Prämisse hat jedoch Disput erzeugt, als Zeki proklamierte, dass aufgrund eines unbewussten Wissens Künstler instinktive Neurowissenschaftler seien.[16] Wegen dieser Behauptung gibt es nun Revierstreitigkeiten. Eine ganze Anspruchsdebatte um den Forschungsgegenstand Kunst und Künstler zwischen Psychologen und Neurowissenschaftlern spielt sich im Internet ab.[17]
Wichtig in diesem Zusammenhang ist allerdings, ob Künstler und Betrachter wirklich so wissensorientiert sind, denn dann müssten wir diese gehirnbedingte Gegebenheit in der Restaurierung berücksichtigen. Praxisbezogen würde das ein Mehr an Information, also eine vermehrte auf den Betrachter zielende Datenflut bedeuten, was sicher Folgen für eine restaurierungs-orientierte Datenbearbeitung hätte. In diesem Kontext muss auf Big Data hingewiesen werden, eine quantitativ orientierte Datenstrukturierungsmethode neueren Datums, die große Datenmengen rechnerisch schnell bewältigt. Big Data beginnt die auf Expertenwissen basierenden Methoden wegen deren Orientierung an Wertsystemen und der daraus resultierenden Fehleranfälligkeit abzulösen, denn so Chris Anderson, Chef des Magazins „Wired“ am 16.07.2008: „Wer kann schon sagen, warum Menschen das tun, was sie tun. Sie tun es einfach und wir können das mit beispielloser Genauigkeit aufspüren und ausmessen. Wenn ausreichend Daten vorhanden sind, sprechen die Zahlen für sich.“[18] Bei Big Data werden quantitativ irrelevante Größen nicht berücksichtigt, die Methode wird von sogenannten Datenbesitzern, das sind in der Regel große Firmen, Regierungen aber auch Kommunikationsmedien wie „facebook“ genutzt. Der Philosoph und Kulturwissenschaftler Byung-Chul Han vermutet in der Quantitätsbesessenheit des heutigen Menschen einen „Optimierungswahn“[19], denn „Die Gangart des Digitalen ist eben die Addition.“[20] Nicht nur für ihn wirft eine quantitative Orientierung in den Gebieten Kunst, Kultur und Bildung Fragen auf.
Man weiß allerdings um die Lücken der “méthode quantitative”. In den Sozialwissenschaften spricht man in diesem Zusammenhang von Triangulation[21], das ist die Gegenprüfung quantitativer durch qualitative Daten, die zum Beispiel in Interviews und Ähnlichem erhoben werden können. Hier ist man aber wieder auf die leicht manipulierbare Statistik angewiesen. Eine Vernetzung der Daten aller Informationsquellen und ihre Kreativität erfordernde Wertung ist Voraussetzung für ein solides Ergebnis. Da dieses Prozedere langwierig und kostenintensiv ist, schrecken Geldgeber davor zurück. So kann es bei Projektförderungen beim Antragsteller leicht zum sogenannten „donor given approach“ und beim Sponsor zum „donor fatigue syndom“[22] kommen.
Diese ökonomischen Gegebenheiten, ihre Konsequenzen wie neue Grenzüberschreitungen von Kultur in Richtung Natur und sozialer Verantwortung, die z.B. auf der letzten Documenta und der letzten Biennale sichtbar wurden, eingeschlossen, sowie neuroästhetische Erkenntnisse im Verband mit den genannten digitalen Systementwicklungen zwingen zum Nachdenken darüber, was Kreativität im Kontext von Kultur für die Restaurierungstätigkeit bedeutet:
Der Begriff Kreativität wird heute laut Stefan Sonnenberg inflationär verwendet [23], da ihr individueller Einfluss nicht mehr deutlich sei. Kulturelles Handeln besteht heute nach allgemeiner Ansicht darin‚ „der Wirklichkeit mit sinnhaftem Tun gegenüber zu treten und über die Sinneseindrücke hinaus eine Welt von Bedeutung zu schaffen“.[24] Ästhetische Bedürfnisse stehen in der vom amerikanischen Psychologen Abraham Maslow für Menschen entwickelten Bedürfnispyramide an dritter Stelle.[25]
Kreativität ist demnach in dem hier angesprochenen Kontext nicht mit irgendeiner sozialen oder anderen „Intelligenz“ verbunden, noch mit Ethik oder Moral, die oft von zeitgenössischen Standpunkten abhängen. Kreativität ist auch keine Sehnsucht, etwas Neues zu finden oder Altbekanntes in einem neuen Kontext zu wiederholen. Nach Meinung der Autorin ist Kreativität begründet in den natürlichen Bedürfnissen der Sinne und eingebettet in zeitgegebene kulturelle Umstände.
Das gilt für alle Künste, in den Bildenden ist dabei das visuelle Denken viel wichtiger und schneller als jedes Wort. Kreativität ist somit lateral, – zu Deutsch querdenkend – und metaphorisch, das bedeutet übertragend. Als solche ist sie ganz traditionell oder besser grundlegend, auch wenn wie in den Wissenschaften immer Neugierde vorhanden ist. Es leuchtet ein, dass der Kreativität quantitative Methoden wie Big Data nicht gerecht werden können.
In diesem Zusammenhang soll ein weiterer neuer Forschungsbereich genannt werden, dessen Erkenntnisse unser Fach bereichern könnte, nämlich die Empathieforschung. Die Kognitionsforscherin und Neurowissenschaftlerin Tania Singer meint, Empathie sei unsere emotionale Resonanzfähigkeit mit anderen und auf Anderes. „Die menschliche Moralität ist fest in den sozialen Emotionen verankert, sie sind unser Kompass und in ihrem Zentrum steht die Empathie“[26] sagt der Verhaltensforscher Frans de Waal. Unter dem Gesichtspunkt von Empathie betrachtet, ist die Kunst ein wahrer Animator: Kunstwerke zeigen eine Balance zwischen selbstvergessenem Engagement und kritischer Distanz, die der Betrachter instinktiv bemerkt und die vielleicht die Hauptattraktion von Kunst ausmacht.
Es ist sinnvoll sich zu erinnern, dass Restauratoren diesen Empathieeffekt des Kunstwerks wie auch jeden Kulturguts unterstützen und im Falle eines Verlusts durch Schaden, zeitliche Distanz, kulturelle Andersartigkeit etc. für unsere Zeitgenossen reanimieren können. Das setzt allerdings voraus, dass wir selbst ein empathisches Verhältnis zu Artefakten gewinnen, das sich von der Zu- oder Abneigung der Sympathie und Antipathie distanzieren kann. Das ist nicht so leicht, denn Indifferenz ist bei Empathie nicht gefragt. Ein Bewusstsein für Empathie kann aber durch die praktische Arbeit in einer Intimität erfahren und erworben werden, die fähig macht, die im Kunstwerk vorhandene visuell zu unterstützen. Es setzt die eigentliche Restaurierung von ihrer Vorbereitung und den notwendigen Zuarbeiten wie Untersuchung und Tests ab und verbindet sie mit der besonderen Verantwortung der Praxis. Verantwortung setzt Vernunft voraus. Die Philosophin Christine M. Korsgaard nennt Vernunft „das Bewusstsein von den Gründen der eigenen Überzeugungen und Handlungen. Intelligenz ist etwas anderes nämlich die Fähigkeit etwas über die Welt zu lernen, aus Erfahrungen zu lernen, neue Verknüpfungen von Ursache und Wirkung herzustellen und dieses Wissen bei der Verfolgung eigener Ziele zu berücksichtigen.“ Alle diese Eigenschaften verbinden die Intelligenz mit den Wissenschaften. „Die Vernunft hingegen blickt nach innen und konzentriert sich auf die Zusammenhänge zwischen mentalen Zuständen und Tätigkeiten.“[27] Diesen Blick nach innen kann Wissensdrang stören, denn Detailakribie und „Transparenzterror“ reduzieren Dinge auf ihre Oberfläche und führen damit paradoxerweise zu Oberflächlichkeit.[28] Davor aber schützt Empathie. Sie ist die Voraussetzung für die Entstehung von ethischen Normen, denn so Frans de Waal: „Moralische Normen und Werte werden nicht aus Maximen begründet, zu denen man unabhängig gelangt ist, sondern aus verinnerlichten Interaktionen mit anderen“.[29] Daher kann auch keine Software oder andere Modellierung die Verantwortung für praktisches Handeln übernehmen. Diese hohe Verantwortung der konservierenden/restaurierenden Tätigkeit darf weder vergessen noch unterbewertet werden. Sie weist darauf hin, dass Konservierung und Restaurierung genauso grundlegend sind wie Kunst und Kultur, deren Erhaltung sie sich verpflichtet hat. Ein Satz des Neurowissenschaftlers und Nobelpreisträgers Eric Kandel vermag die Bedeutung des Restauratorenberufs besonders deutlich zu unterstreichen: „Wir sind, wer wir sind, auf Grund dessen, was wir lernen und woran wir uns erinnern.“[30]
Dank
Dem Politikwissenschaftler Holger Stoltenberg-Lerche danke ich für zahlreiche Hinweise und Anregungen.
Hinweis
Dieser Artikel ist unter demselben Titel ebenfalls erschienen in:
ÖRV Journal. Magazin des Österreichischen Restauratorenverbandes, Ausgabe 08 / Mai 2015, S. 31-36.
Anmerkungen
[1]Derartige Metaphern findet man auch in anderen Wissensbereichen. Holger Stoltenberg-Lerche nannte der Autorin eine in Entwicklungs- und Friedensarbeit benutzte medizinische Metapher: „der Friedensarbeiter wird als Arzt für kranke Staaten bezeichnet“.
[2]Francois Jacob, Molekulargenetiker, zitiert aus KANDEL 2009, S.259
[3] HAN 2013, S.79 f
[4]Ein weiteres computerinduziertes Syndrom ist eine Versagensangst auf Grund verpasster Internetinformation, die zu einem pausenlosen Informationskonsum führen kann Freundliche mündliche Mitteilung durch Holger Stoltenberg-Lerche.
[5] GREGORY 2009, S. 212
[6]siehe u.a. die Schriften des Medienphilosophen Vilem Flusser
[7]Erwähnt im Vortrag France Desmarais bei Jahrestagung ICOM Deutschland in Köln 17.-19.10. 2013www.wipo.int/amc/en/docs/mediationlondon.pdf [8]Diese sich in mangelndem monetären Respekt äußernde Situation im Kulturbereich ist teilweise selbstverschuldet, weil man sich mancherorts in vorauseilendem Gehorsam zu sehr den Forderungen des Marktes, des potentiellen Sponsors und Ähnlichem anzupassen versuchte.
[9]HABERMAS 1981
[10]NENTJES 2012
[11]KYLLONEN-KUNNAS 2012
[12]KELLER 2012 dokumentiert, dass Derartiges schon 1798-1800 von Goethe und seinem Assistent Meyer in den Propyläen diskutiert wurde : 9 : « The static, physical illusion of entireness that restoration gives to the artwork contrasts with the dynamic inner vision that originates from the productive imagination: reshaping the perception of the external world by an ‘inner vision…the impossibility of bridging the gap between past and present should not be hidden by restorers….the temporality of the artwork should be clearly revealed, as it forms the basis for the imaginative completion by which the beholder copes with his desire for the past.’ »
[13]PALAZZI 1999 wies im Restaurierungszusammenhang schon 1999 auf Ilya Prigogine hin, der in seinem 1981 mit Isabelle Stengers veröffentlichten Werk „Dialog mit der Natur“ eine ‘neue Allianz‘ zwischen den experimentellen Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften nannte. Diese schließe eine Lücke zwischen den Wissenschaften, die durch rapide Entwicklungen in den Naturwissenschaften und Techniken entstanden sei, da diese zu schnell verliefen, als dass Erkenntnisse von den Wissenschaftlern selbst geschweige denn vom Laien hätten verstanden werden können. Diese Lücke hat sich in der Zwischenzeit so stark vergrößert, dass ein Zusammenrücken heute noch viel dringlicher scheint als damals. Der Medienphilosoph Vilem Flusser (1920-91) sah ein Zusammenrücken der Wissensgebiete durch digitale Entwicklungen voraus. Seine Einschätzung der Kommunikationsmedien (Utopie der Telematik.In: Flusser, Vilém (1985), Ins Universum der technischen Bilder, S. 10) war allerdings sehr optimistisch.
[14]Für Laien verständliche Literatur : ZEKI 2009
[15]Berühmt ist dabei vor allem seine 1910 entstandene Studie „Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci“.
[16]Auf der Website seines Instituts steht unter “Forschungsvoraussetzungen” unter anderem: “that artists are, in a sense, neurologists who study the capacities of the visual brain with techniques that are unique to them.” (Zugriff: 11.08.2014)
[17] http://redlimemagazine.com/FEBRUARY%20ISSUE%20INTERFACE/articles/NeuroAesthetics.html (Zugriff : 11.08.14)
[18]HAN 2013, Fußnote 69 und 70
[19]HAN 2013, S. 43
[20]HAN 2013, S. 31
[21]http://www.ipsos.de/assets/files/presse/2011/publikationen/Triangulation_als_Forschungsstrategie.pdf
[22]Hinweis von Holger Stoltenberg-Lerche
[23]SONNENBURG 2006, http://karlshochschule.de/en/university/people/professors/prof-dr-stephan-sonnenburg (Zugriff: 11.08.2014)
[24]TENBRUCK 1990, S.26
[25]MASLOW 1971
[26]DE WAAL 2011, S. 76
[27]zitiert aus Moral und das Besondere am menschlichen Handeln in DE WAAL 2011 S. 131
[28]HAN 2013, S. 91f
[29]De WAAL 2011. S. 193
[30]Tagesanzeiger.ch 3. Juni 2011
Literaturzitate:
DE WAAL 2011 – Frans de Waal: Primates and Philosophers. How Morality Evolved. Princeton N.J. 2006. DTV Ausgabe München 2011
FLUSSER – Vilem Flusser: Flusser Archiv, Utopie der Telematik <http://www.flusser-archive.org/> (Zugriff: 11.08.2014)
FREUD – Sigmund Freud: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci. 1910
GREGORY 2009 – Richard Gregory: Seeing through illusions. Oxford 2009
HABERMAS – Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. Frankfurt 1881
HAN 2013 – Byung-Chul Han: Im Schwarm Ansichten des Digitalen. Berlin 2013
KANDEL 2009 – Eric Kandel: In search of memory New York 2006. Deutsche Ausgabe: Auf der Suche nach dem Gedächtnis. München 2009
KELLER 2010 – Claudia Keller: The Beholder’s Hurt Feeling. Johann Heinrich Meyer’s Critical Discussion of Restoration. In: La restauration des oeuvres d’art en Europe entre 1789 et 1815: pratiques, transferts, enjeux. CeRoart 2010, http://ceroart.revues.org/2408 (Zugriff: 11.08.2014)
KYLLONEN_KUNNAS 2012 – Paivi Kyllonen-Kunnas: Percent-for-Art Policy and Contemporary Art Care and Conservation-Restoration in the City of Oulu Art Collections. In: Ceroart 8/2012, http://ceroart.revues.org/2847 (Zugriff: 11.08.2014)
MASLOW 1971 – Abraham Maslow: Farther Reaches of Human Nature, New York 1971
NENTJES 2012 – Andries Nentjes: On the Right to Repeat Oneself. In: Homo Oeconomicus Vol. 29, No. 3 (2012), S. 413-431
PALAZZI 1999 – Sergio Palazzi: Reversibility: dealing with a ghost. In: Reversibility – does it exist? London 1999, S. 175
SONNENBURG 2006 – Stefan Sonnenburg: Kooperative Kreativität. Theoretische Basisentwürfe und organisationale Erfolgsfaktoren. Berlin 2006
TENBRUCK 1990 – F.H.Tenbruck: Repräsentative Kultur. In: Hans Haferkamp (Herausgeber), Sozialgeschichte und Kultur. Frankfurt a. M. 1990
ZEKI 2009 – Semir Zeki: Splendor and miseries of the brain – Love, creativity and the quest for human happyness. Oxford 2009